Geliebter Paul
Paul gehört zur Familie. Er sitzt mit uns am Esstisch, geht mit den Kindern abends schlafen und hat sogar eine eigene Zahnbürste. Er war dabei als wir Norberts Beförderung gefeiert haben, als unser Mariechen geboren wurde und als ich erfahren habe, dass Vater im Sterben liegt.
Am Jahrmarkt vor vier Jahren sind wir Paul begegnet. In einer der Buden saß er auf dem Regal, hineingequetscht zwischen zwei Teddys, die viel größer waren als er.
„Den da will ich!“, schrie Max.
Wie wild pfefferten wir die Tennisbälle gegen die Blechdosen, wieder und wieder. Die ganze Familie kämpfte gemeinsam für dieses Kuscheltier. Umso größer war die Freude als Max ihn endlich in die Arme nehmen konnte.
Schon so manche Freundin, die auf Besuch gekommen ist, hat mir gesagt, dass Pauls Zeit um ist. Er hat doch nur noch ein Auge, seine Haare gehen ihm aus und aus einem Bein quillt die Watte hervor.
„Das macht nichts“, sage ich dann immer.
„Warum kaufen wir nicht einfach einen Neuen?“, fragt mich Norbert eines Morgens beim Frühstück.
„Lass das ja nicht die Kinder hören, vor allem nicht Max“, antworte ich nur.
Es ist ein Gespräch an das ich Tage später denken muss, als Max mit verquollenen Augen vor mir steht. „Paul ist weg“, schnieft er.
„Der ist bestimmt nur aus dem Bett gefallen.“ Ich nehme Max bei der Hand und helfe ihm beim Suchen. Mariechen schläft tief und fest. Nichts kann die kleine Maus wecken, nicht einmal ihre Mutter, die mit der Taschenlampe am Boden herumkriecht und einen alten Teddy sucht.
„Das ist doch lächerlich.“ Norbert steht in der Tür und sieht mich an. „Lass den Teddy, Teddy sein.“
Max sitzt auf seinem Bett. Tränen kullern über seine Wangen. „Er ist nicht mehr da.“
„Dann kaufen wir eben einen Neuen.“ Norbert dreht sich um und geht.
Ich halte ihn im Gang auf. „Wenn du Paul weggeworfen hast …“, flüstere ich mit erhobenem Zeigefinger.
„Was dann? Rufst du die Teddypolizei?“ Er grinst mich an.
Ich stürme in die Küche und öffne den Schrank unter der Spüle. Der Müllkübel ist leer.
„Du sagst doch immer ich soll den Müll rausbringen“, meint Norbert.
Ich dränge mich an ihm vorbei, gehe hinaus ins Freie. Eine kalte Brise bläst mir entgegen. Ich fröstle. Die Mülltonnen stehen am anderen Ende der Siedlung und sind, wie jede Woche um diese Zeit, zum Bersten gefüllt. Die Laterne beleuchtet diesen Teil der Wohnstraße, das macht es mir leichter. Ich wühle in der ersten Tonne. Nichts. Die nächste. Wieder nichts.
Ein Räuspern hinter mir.
Ich drehe mich ruckartig um, mit einem Blick, der Norbert einen Schauer über den Rücken jagen soll. Doch es ist nicht Norbert. Vor mir steht unser Nachbar, Herr Müller. Er hat ein paar leere Bierflaschen in den Händen und blinzelt mich an.
„Was machen Sie denn noch so spät hier draußen, Frau Weihmar?“
„Wonach sieht es denn aus?“ Ich wende mich der großen Restmülltonne zu.
„Kann ich helfen?“
„Wenn Sie einen alten Teddy mit einem Auge sehen, schreien Sie.“
Die Bierflaschen klirren, dann raschelt es. Herr Müller gräbt in der Plastiktonne neben mir. „Wie heißt er denn?“
Ich sehe Herrn Müller verwirrt an.
„Der Teddy, wie heißt der Teddy?“
„Paul.“
Wieder Rascheln. Die Restmülltonne ist tief, der Gestank von gammligen Schuhen und Katzenkot steigt mir in die Nase.
„Ich hatte eine Giraffe als ich klein war“, sagt Herr Müller. „Sie hieß Louisa. Ich liebte sie. Eines Morgens bin ich aufgewacht und sie lag nicht mehr neben mir. Stattdessen stand da eine andere Giraffe am Nachttisch. Sie sah Louisa nicht einmal ähnlich.“
Ich mache einen Schritt zurück und atme ein paar Mal tief ein. Der Gestank will einfach nicht aus meiner Nase. „Haben Sie versucht sie zu finden?“
„Nein. Ich habe geschrien und geweint. Keiner der Erwachsenen hat mich verstanden.“
Schweigen.
„Sie versuchen es zumindest“, sagt Herr Müller nach einer Weile.
Versuchen ist nicht genug. Ich muss Paul finden. Er ist nicht einfach nur ein Teddy. Er gehört zur Familie.
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